KI, Klimawandel, E-Mobilität, Diversity, neue Ernährungs- und Lebensgewohnheiten der Generation YZ – alle diese Themen galten bis zuletzt als disruptive Treiber, die sämtliche bestehenden Strukturen aufbrechen. Doch was Disruption wirklich bedeutet, zeigt jetzt erst die Coronakrise.
Bisher stimmige Strategien erleben einen schlagartigen und radikalen Wandel. Viele der geplanten Kampagnen, Produkteinführungen, Marketing- und Kommunikationskonzepte, sogar ganze Geschäftsmodelle, wurden von einem auf den nächsten Tag obsolet.
Chance für neue Möglichkeiten
Wenn sich selbst grundlegende Strukturen in solch kurzer Zeit so dramatisch ändern, flankiert durch ein umfassendes Gefühl der Verunsicherung, ist die erste Reaktion auch im professionellen Kontext Angst, Hektik, Apathie und Resignation. „In Krisenzeiten gehen viele Manager in den Panikmodus und kümmern sich hauptsächlich um Mikromanagement wie Cost Cutting und Verträge“, so Andreas Steinle, Gründer und Geschäftsführer der Strategieschmiede Zukunftsinstitut Workshop GmbH.
Diese „Business Issues“ sind natürlich erstmal wichtig. Doch nachdem der erste Schock verarbeitet und die dringendsten Maßnahmen umgesetzt sind, ändern unternehmerisch denkende Menschen ihr Verhalten schnell. Sie suchen nach Lösungen, sie treiben Veränderungen und sie beginnen, neue Möglichkeiten zu erkennen. Sie sind gerade in Krisen besonders wach und besonders neugierig, dazu noch offener und noch motivierter als bisher schon. Denn sie möchten nicht untergehen, sie möchten jetzt erst recht weiterkommen.
Interesse an Corona-News ist ungebrochen
Wer inmitten der Coronakrise eine solche Haltung pflegt und in der Marketing- und Kommunikationswelt zuhause ist, kennt hier im Augenblick nur einen Gedanken: Wie kann ich die Sichtbarkeit meines Unternehmens aufrechterhalten oder sogar noch steigern?
Die mediale Hürde für eigene Themen ist aktuell leider riesig. Zwischen 60 bis 70 Prozent der Berichte thematisieren Corona. Und auch wenn sich bei den Lesern langsam eine Art Info-Ermüdung breit macht, ist das Interesse an Corona-News, das zeigen die Klickzahlen, weiterhin riesengroß. Spätestens bei Themen, die sich nicht (nur) mit Corona beschäftigen, ist die Aufmerksamkeit jedoch erschöpft.
Themen abseits der Krise
Wie also lässt sich diese Infodemie-artige Wahrnehmungsschranke überwinden? Was interessiert die Menschen, wenn sie mal nicht mit Corona-News, ihren Kindern oder Netflix beschäftigt sind? Und welche Themen, die für sich genommen nichts mit Corona zu tun haben, stoßen durch die Krise auf deutlich mehr Interesse?
Martin Lindstrom aus den USA, einer der renommiertesten Marketing-Experten der Welt, schreibt in einem aktuellen LinkedIn-Beitrag, dass wir uns krisenbedingt wieder fundamentalen Sinnfragen über unser Leben, unsere Beziehungen und unsere Arbeit zuwenden werden. Und während wir digitalen Lifestyle auf einem neuen Niveau erlernen, stellen wir gleichzeitig fest, wie wichtig uns die haptischen Erlebnisse unseres Daseins und die persönlichen Kontakte sind und wie sehr sie gerade fehlen.
Sinnsuche wird zum Top-Thema der Gesellschaft
Aus Lindstroms Gedanken lässt sich eine zentrale Erkenntnis ableiten. War „Purpose“ bis zur Krise nur Top-Thema im Binnenraum der Unternehmen selbst, wird Sinnsuche nun (neben Digitalisierung) zum Top-Thema der gesamten Gesellschaft. Kommunikatoren stehen damit vor der Herausforderung, diese Sinnsuche zu adressieren und bestenfalls zu begleiten – indem sie echte Orientierung und Unterstützung bieten. Der enorme Zulauf, den klassische Leitmedien in der Coronakrise erfahren, deutet zudem an, dass sich gerade starken Marken hier eine große Chance bietet: „Auf der Sinnsuche ist der gesellschaftliche Beitrag von Marken mehr gefragt denn je“, so Andre Paetzel, Head of Brand bei Kienbaum Consultants. Marken bräuchten nun „volle Transparenz und Glaubwürdigkeit. Für Markenlenker und Entscheider heißt das, die Situation ernst nehmen, aber keine Panik stiften und eine klare Kommunikation mit sinnstiftenden Maßnahmen verbinden“.
Kommunikation auf persönlicher Ebene
Für Zukunftsforscher Steinle stehen die „People Issues“ im Mittelpunkt. Es sei „gerade nicht die Zeit für klassische PR und Marketing, es geht vielmehr um Kommunikation auf persönlicher Ebene – und um echte Hilfe, darum, sich um Mitarbeiterinnen, Mitarbeiter und Kunden auf einer menschlichen Ebene zu kümmern. Zeigen, dass man füreinander da ist. Das wird dann auch zu größerer Wahrnehmung und Sichtbarkeit führen, doch sollte das nicht die Motivation des Handelns sein“.
Das sieht Andre Paetzel ganz ähnlich. „Wahrhaftigkeit und ein ernsthaftes Interesse, etwas Sinnvolles beizutragen, sollten im Vordergrund stehen. Wer aktuell nicht dazu beiträgt, das Allgemeinwohl zu stärken, hat im Mindset nichts verloren. Gerade in einer Zeit, in der die Welt in Schockstarre verfällt, wollen die Kunden keine Werbung und losen Versprechen mehr.“
Keine Chance für (Schein-)Lösungen
Konventionell gedachten, eher plump das Geschäft fokussierenden oder fadenscheinig wirkenden Aktionen und Werbebotschaften könnte daher der Awareness-Markt wegbrechen, weil sie noch mehr als bisher schon unpassend, überflüssig oder gar belästigend wirken. Ebenso sinnlos erscheint eine Art Solutionismus – ein Buzzword, das der renommierte Technikexperte und Harvard-Forscher Evgeny Morozov prägte: (Schein-)Lösungen auf der verzweifelten Suche nach Problemen.
Glücklicherweise scheinen sinnvolle Lösungen, wie Unternehmen sichtbar zum Allgemeinwohl beitragen, bisher zu überwiegen. Bosch hat rekordschnell einen Antikörpertest entwickelt. Aldi und die Telekom verschenken Datenvolumen. Melitta, Playmobil, der Automobilzulieferer DFR und 40 Prozent der Modeunternehmen stellen Schutzmasken her. Tesla hat ein Beatmungsgerät aus Teilen des Model 3 vorgestellt, Beiersdorf produziert Desinfektionsmittel und Jägermeister konnte mit der Ankündigung, Alkohol für Desinfektionsmittel herzustellen, eine riesige Medienresonanz erzeugen.
Sehnsucht nach positiven Zukunftsentwurf wächst
Doch neben Ad-Hoc-Maßnahmen wäre jetzt genau die richtige Zeit, Menschen für Zukunftsthemen zu begeistern. Denn im Verlauf einer schweren Krise wächst die Sehnsucht nach einem positiven Zukunftsentwurf, dem berühmten Licht am Ende des Tunnels. Ein Storytelling, das dieses Licht durch positive, spannende und vor allem sinnstiftende Zukunftsthemen zum Strahlen bringt, wäre im Augenblick ein ebenso ehrenvolles und lohnendes Ziel für Kommunikatoren wie die aktuellen Beiträge zum Allgemeinwohl.
Zukunftsthemen erkennen
Dazu bieten sich genau die Themenbereiche an, die auch ohne Corona existieren und funktionieren, aber durch Corona auf höheres Interesse stoßen. So könnten Healthcare-Firmen darüber berichten, wie Remote Surgery und digitale Pillen die Effizienz von Kliniken und Heilungsprozessen auf ein neues Niveau heben. Es ließe sich über synthetische Biotechnologie sprechen, die mit Hilfe von KI die Entdeckung und Entwicklung neuer Wirkstoffe massiv beschleunigt. Tech-Unternehmen könnten über Konnektomik reden, die KI erst wirklich intelligent macht, oder über ihre Arbeit an einer Augmented-Reality-basierten Mirrorworld, einem digitalen Zwilling unserer gesamten realen Welt, der unter anderem ganz neue Möglichkeiten für zukünftige Krisen-Präventionen, die Digitalisierung unseres Gesundheitssystems und unsere Versorgungslogistik bieten würde. Dazu schlummern zahllose weitere Zukunftsthemen in den Nischen der Berichterstattung, darunter Querschnittsthemen, die bald richtig groß werden könnten wie Wohngesundheit, gesundes Bauen und die Indoor Generation.
Sinnhaftigkeit schafft Sicherheit
Doch bis auf Weiteres tangiert die Sinnfrage jedes derzeit denkbare Storytelling zentral. Und es ist keine Überraschung, dass sie gerade jetzt im großen Maßstab neu gestellt wird. Denn Sinnhaftigkeit schafft Gewissheit und Gewissheit schafft Sicherheit. Das Gefühl von Sicherheit schließlich ist etwas, dass in einer Krise und bei epochalen Umbrüchen am stärksten leidet, weshalb wir uns umso mehr danach sehnen.
Je länger die Coronakrise aber andauert, umso mehr ist auch das Licht am Ende des Tunnels wichtig, denn es steht für Hoffnung und Zuversicht, die jetzt, gemeinsam mit dem Wunsch nach Sicherheit, zu unseren wichtigsten emotionalen Zufluchtsorten werden. Wer diese Werte glaubwürdig, wahrhaftig und transparent bespielt, wird gesehen und gehört, gerade inmitten der herrschenden Infodemie, aber auch weit darüber hinaus.
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