Viele Unternehmen schauen für Innovationen nach Silicon Valley, dabei lohnt es sich manchmal viel mehr, einen Blick in die andere Richtung zu werfen: nach China. Seit dem 1. März 2022 verstärkt die pressrelations Group ihre internationale Präsenz mit einem neuen Büro im Herzen der Wirtschaftsmetropole Shanghai. Virginia Chen, COO Asia-Pacific bei pressrelations, beantwortet im Interview die wichtigsten Fragen rund um den chinesischen Markt und gibt hilfreiche Tipps, wie ausländische Marken in China Fuß fassen können.
Was unterscheidet den chinesischen Markt von jenen in Europa oder Amerika?
Virginia: In den letzten Jahren hat die rasante Entwicklung Chinas die Aufmerksamkeit der ganzen Welt auf sich gezogen: von einer Produktionsfabrik mit gewaltiger Arbeitskraft über ein äußerst wettbewerbsfähiges Schwellenland hin zu einem Vorbild für Digitalisierung.
Das tägliche Leben der Chinesen scheint einem Fantasy-Roman gleich, der Szenen aus der Zukunft beschreibt: Einkaufen, Essen, Unterhaltung, Reisen, Bildung, Steuern und sogar die aktuelle Messung der Pandemieprävention – all das wird in Apps umgewandelt, um einen lückenlosen Informationsaustausch zu gewährleisten.
Die Trends des chinesischen Marktes sind stark von der öffentlichen Meinung abhängig, viel stärker, als dies bei anderen Märkten der Fall ist: Ein politischer Eklat kann eine gesamte Branche über Nacht zusammenbrechen lassen. Ebenso ist eine Kampagne, die sensible Themen behandelt, in der Lage, einen seit vielen Jahren aufgebauten Ruf sofort zu zerstören.
Auf der anderen Seite kann eine aufstrebende chinesische Marke den Marktanteil internationaler Unternehmen in kürzester Zeit schlucken. Das Risiko, das von der öffentlichen Meinung ausgeht, sollten Unternehmen in China daher stets berücksichtigen.
Was müssen Marken beachten, wenn sie in den chinesischen Markt eintreten möchten?
Virginia: Der chinesische Markt verfügt über eine immense Kaufkraft und ist gleichzeitig hochgradig digital. Für ausländische Marken, die dem Markt betreten wollen, ist dies gleichermaßen verlockend wie auch herausfordernd.
In Bezug auf Produktstrategie und Markenwerbung ist es für viele Firmen zu einer fast unüberwindbaren Hürde geworden, die Konsumgewohnheiten der chinesischen Verbraucher und die Mechanismen des digitalen Marketings zu verstehen sowie die richtigen Kanäle zu bespielen, um relevante Markteinblicke zu erhalten und die Bedürfnisse entsprechend bedienen zu können.
Welche Rolle spielen die Medien in der chinesischen Wirtschaft?
Virginia: China wird pausenlos mit neuen Inhalten und Informationen geradezu überflutet. Weibo bspw. hat 520 Mio. und WeChat gar 1,26 Mrd. aktive monatliche Nutzer. Hier werden unzählige Text- und Bildinhalte gepostet, trendige Themen und Chatgruppen erstellt. Auch auf Zhihu werden Fragen gestellt und von 85 Mio. Nutzern diskutiert; ganz zu schweigen von der enormen Menge an kurzen Videos, die in und außerhalb Chinas viral gehen.
Angesichts all dessen bietet sich Marken eine gigantische Datenbank, aus der sich Insights zum Verbraucherverhalten generieren, Trendmuster erkennen und mehr Einblick in den schwer zu durchdringenden chinesischen Markt gewinnen lassen. Für viele Unternehmen stellt sich aber die Frage, wie sie dieses enorme Potenzial effektiv nutzen können.
Das chinesische Business ist aufregend, aber es birgt auch fatale Risiken. Eine neue inländische Marke kann innerhalb kürzester Zeit aufsteigen und ihren internationalen Konkurrenten ein Stück des großen Kuchens wegnehmen. Es gibt aber auch Fälle, in denen eine alteingesessene Marke wegen eines heiklen Themas oder eines Werbeplakats ihre lang erarbeitete Reputation verloren hat.
Letztes Jahr brach die gesamte private Bildungsbranche innerhalb weniger Tage wegen einer politischen Entscheidung zusammen, die angekündigt und fast zeitgleich umgesetzt wurde. Selbst Marken, die bereits seit über zehn Jahren in China tätig sind, werden nicht müde, die Meinungen in Sozialen Medien zu überwachen und Trends zu beobachten, um bei potenziellen Krisen gewarnt zu sein.
In China werden traditionelle Medien digitalisiert und E-Commerce in Social Commerce umgewandelt. Die Strategien ausländischer Marken, die in anderen Regionen funktionieren, passen möglicherweise nicht in das Medien-Ökosystem Chinas. Offiziell sind Facebook, Instagram und Twitter blockiert, doch es gibt zahlreiche weitere Plattformen mit ähnlichen oder sogar besseren Funktionen, die diese Marketingkanäle ersetzen.
Da gibt es beispielsweise die Kurznachrichten- und Spiele-App Weibo, die 2009 veröffentlicht wurde – dasselbe Jahr, in dem die chinesische Regierung die amerikanischen Netzwerke verboten hat, was für Weibo ideale Wachstumsbedingungen schuf. Oder WeChat, die Super-App, die den Austausch von Nachrichten und die Umwandlung von Verkäufen integriert, Zhihu für den professionellen Wissensaustausch, Bilibili (auf Chinesisch “B-Station”), wo sich ein Großteil der jüngeren Zielgruppen findet, um Inhalte zu erstellen, oder Little Red Book, der Lifestyle- und Einkaufsführer.
Obwohl diese Plattformen unterschiedliche Eigenschaften besitzen, so folgen sie doch einem gemeinsamen Trend: Ihr kommerzieller Wert und ihre Marketingfunktionen nehmen stetig zu. Es gibt noch viel Potenzial für ihre Entwicklung in den kommenden Jahren.
Was wird das nächste heiße Thema für internationale Unternehmen in China sein?
Virginia: Die Orientierung junger Chinesen Richtung Westen hat sich auf die eigene Kultur hin verlagert. Dieses Phänomen erreichte bei den Olympischen Winterspielen im Februar seinen Höhepunkt: chinesische Jugendliche haben ihren Stolz für die eigene Kultur wiedererlangt.
Diese Entwicklung hat sich zu einem Trend verdichtet, der sich in Modeelementen und Markenidentitäten widerspiegelt. Der Aufstieg chinesischer Marken ist sicherlich eine große Konkurrenz für westliche Marken, doch das bedeutet nicht, dass diese für Chinesen weniger attraktiv geworden sind. Vielmehr wird vermehrt auf den Charakter und die Botschaft, die eine Marke vermittelt, Wert gelegt. Schwierig wird es für Unternehmen, welche nicht die Werte verkörpern, die für Chinesen von zentraler Bedeutung sind.
Für das Verständnis und die Anerkennung dieser Werte bedarf es eines tiefen Verständnisses für die chinesische Kultur und Gesellschaft. Chinesen zeigen teils große Abneigung bezüglich westlicher Stereotypen. Die Sensibilität und Einheit, mit denen sich Chinesen um die die Steigerung des nationalen Ansehens bemühen, sind bemerkenswert.
Traditionelle Medien sind in China sehr regierungsnah. Ist das Monitoring dieser Medien sowie das Management der Medienarbeit daher für Marken weniger wichtig geworden?
Virginia: Ganz im Gegenteil. Unter traditionellen Medien versteht man in China Zeitungen, Radio und Fernsehen mit staatlichem Hintergrund. Zentrale Medien wie People’s Daily und CCTV sind dabei die führenden Medien mit starker Autorität. Sie geben den Ton für wichtige gesellschaftliche Themen und politische Maßnahmen an. Wie bereits erwähnt, sind die traditionellen chinesischen Medien in hohem Maße digital, ihre Nachrichten werden über alle Kanäle verbreitet. Auf ihren Weibo-Konten kommentieren sie häufig Themen und Ereignisse, um mit den Nutzern zu interagieren.
Wenn eine Marke in China Fuß fassen möchte, geben diese zentralen Medien grundsätzliche Orientierung und zeigen Grenzen auf. Die Regeln zur Veröffentlichung von Inhalten sind außerordentlich detailliert und sehr streng. Wenn man jedoch mit den Regeln vertraut ist und sich strikt an diese hält, gibt es immer noch viel Raum für Kreativität und neue Konzepte.
Der Schlüssel zum Erfolg ist dabei die Fähigkeit, aus dem Rauschen unzähliger Medienstimmen in den Unmengen von Daten nur die nützlichsten Informationen herauszufiltern, um relevante Ergebnisse zu erhalten. Ein gutes Monitoring-Tool, das echte Insights bietet, ist – nach einer chinesischen Redensart – wie Flügel für einen Tiger.
Vielen Dank, Virginia!
Virginia Chen hat 17 Jahre Erfahrung in der Medienforschung und PR-Beratung, wovon sie über 14 Jahre lang in China tätig war. Dort betreute sie chinesische und internationale Marken in den Bereichen Strategic Media Engagement, Consumer Insights und Social Listening. Chen war Managing Director von PRIME China und CEO des chinesischen Media-Intelligence-Unternehmens IDR.