Corona hat unser Leben auf den Kopf gestellt. Seit Wochen befindet sich das Land im Ausnahmezustand. Viele Menschen warten auf das Ende des Shutdowns und fragen sich, wie es danach weitergeht. Darüber haben wir mit Zukunftsforscher Andreas Steinle gesprochen: Er sieht in der Krise auch Chancen. Jetzt sei die Zeit, lang aufgeschobene Dinge wie Digitalisierung und flexiblere Arbeitsmodelle voranzutreiben und in die Unternehmenskultur zu investieren. Je mehr „Krisen, Unsicherheit und Veränderungen“ es gebe, umso wichtiger werde der „soziale Kitt, der ein Unternehmen zusammenhält.“
Herr Steinle, seit über 20 Jahren beschäftigen Sie sich mit Zukunftsforschung und künftigen Trends – haben Sie damit gerechnet, dass Corona so weitreichende Folgen haben würde?
Es hatte sich zwar angedeutet, aber dass die Pandemie solche Ausmaße annehmen würde, das hatten selbst wir als Zukunftsforscher nicht im Blick. Ein Shutdown dieser Art hat sich wohl niemand vorstellen können. Ich persönlich auch nicht.
Viele Menschen fragen, wie es nach dem Shutdown weitergeht. Was erwarten Sie?
Man kann dieses Virus mit einem wilden Tier vergleichen – sagen wir mit einem Tiger im Dschungel Indiens. Dieser Tiger hat uns angegriffen, gebissen und verletzt. Wir haben uns in unsere Häuser verkrochen und die Zeit genutzt, etwas über sein Wesen zu lernen. Wie verhält er sich? Was sind seine Gewohnheiten? Und wir haben begonnen, uns vor ihm zu schützen. Würden wir nun im Dunkeln hinaustreten, wären wir natürlich eine leichte Beute. Aber in dem Moment, wo wir eine Laterne mitnehmen, ist die Gefahr gleich weniger groß. – Genau darum wird es jetzt gehen: Dass wir lernen, mit dem wilden Tier in den nächsten Monaten zu leben. Wir werden einen Schritt nach dem anderen gehen, den Tiger beobachten und genau schauen, wie er sich verhält.
Doch wie wird sich unsere Welt verändert haben? Oder machen wir einfach da weiter, wo wir aufgehört haben?
Wir werden zu einer anderen Normalität zurückkehren. Eine wichtige Veränderung wird unsere Risikowahrnehmung sein. Risikomanagement wird eine der Top-Prioritäten für die Zukunft werden. Das heißt z.B. für einen globalen Produktionsbetrieb, dass er sich dezentraler aufstellt. Für einen Händler bedeutet es, dass er nicht nur auf offline setzt, sondern seine digitalen Kanäle hochfährt. Er wird seinen Laden nicht mehr nur als einen Verkaufsort für Realverkäufe nutzen, sondern auch als einen Produktionsort für Onlineshopping.
Haben Sie ein konkretes Beispiel?
Schauen wir nach China, wo man in der Krisenbewältigung bereits ein Stück weiter ist. In Onlineshopping ist hier durch Corona noch weiter investiert worden. Als die chinesischen Geschäfte wieder öffnen konnten, blieben ihnen die Kunden weg. Die hatten sich in der Zwischenzeit daran gewöhnt, ihre Einkäufe noch stärker als bisher online zu erledigen. Neue Lösungen mussten her: Forest Cabin, eine populäre Kosmetikmarke mit 300 Filialen, trainiert jetzt z.B. seine Verkäuferinnen und Verkäufer für Streaming Shopping – die Produkte werden in den Läden online vermarktet und verkauft. Das ist Risikomanagement, nicht einseitig auf einen Kanal zu setzen, sondern auf mehrere gleichzeitig. Das gilt im Übrigen auch für andere Branchen. Der Messebauer nutzt seine handwerklichen Dienste künftig vielleicht, um Gartenhäuser für Privatleute zu bauen. Die Krise zeigt: Sich nur auf einen Bereich zu spezialisieren, ist einfach verdammt riskant.
Also kann Corona auch Motor für wirtschaftliche Innovation sein?
Ja, auf jeden Fall. Das ist auch eine Lehre aus der Sars-Pandemie der Jahre 2002/2003. Der Online-Händler Alibaba war zuvor komplett auf den B2B-Markt konzentriert. Als der dann einbrach, startete Jack Ma mit dem B2C-Kanal Taobao. Heute gehört das Unternehmen zu den weltweit größten Anbietern im B2B- und im B2C-Bereich.
Welche Möglichkeiten sehen Sie noch?
Die große Chance liegt darin, dass wir jetzt lang aufgeschobene Dinge vorantreiben können. Zum Beispiel den eigenen Betrieb stärker zu digitalisieren und Homeoffice anzubieten. Vor Corona war das in vielen Unternehmen ein Tabu und immer mit Fragen verbunden wie: „Arbeiten die Leute auch wirklich, wenn sie zu Hause sind?“ und „Welche Rolle habe ich dann als Chef, wenn ich meine Mitarbeiter nicht mehr kontrollieren kann?“. Künftig ist es vielleicht nicht mehr die Rolle der Kontrolle, sondern die Rolle der Inspiration – das Team zusammenhalten, stärken und coachen.
Damit verbunden werden sich auch neue Berufsfelder entwickeln, z.B. spezielle Homeoffice-Einrichter, die sich um die IT-Sicherheit kümmern. Auch die Nachfrage nach agilen Arbeitsmethoden wird steigen, da wir uns künftig stärker selbständig organisieren. Die Krise treibt uns alle aus unserer Komfortzone und wir lernen eine ganze Menge dabei – dazu gehört auch mehr in digitalen Projekten zusammenzuarbeiten.
Gerade in Schule und Bildung gibt es da ja sehr viel Nachholbedarf…
Ja, das ist ein dickes Brett mit den Schulen. Man sieht gerade sehr deutlich, wie unterschiedlich die Voraussetzungen sind. Wenn eine sechsköpfige Familie auf 60 Quadratmetern beengt lebt, haben die Kinder natürlich ganze andere Möglichkeiten als solche, die im Eigenheim aufwachsen – mit eigenem Zimmer, Computer und Highspeed-Internetverbindung. Da zeigen sich die sozialen Ungleichheiten. Aber es lenkt auch den Fokus auf ein Problem, das man jetzt besser angehen kann.
Das individuelle Lernverhalten wird durch digitale Lernformate sehr gut unterstützt und die Einbindung in pädagogische Lernkonzepte ist eine riesige Verbesserung.
Momentan werden wir auf allen Kanälen mit Corona-News bombardiert. Was bedeutet die Krise für Medien und Medienkonsum?
Unser evolutionäres Hirn ist von Natur aus ein Angsthirn. Das heißt, wir reagieren auf Angst stärker als auf positive Meldungen und nichts nährt natürlich die Angst mehr als so ein Virus. Von daher haben die Menschen jetzt einen viel höheren Medienkonsum und die Klickzahlen und Digitalabos gehen nach oben. Das gesteigerte Bedürfnis nach Informationen und Orientierung stärkt sowohl die seriösen Medien, aber begünstigt auch Fake News. Ich glaube, das ist vergleichbar mit unserem Ernährungsverhalten: Auf der einen Seite haben wir überall diese ungesunden Angebote, denen wir den ganzen Tag begegnen – den Burgern, den Fritten und den Süßigkeiten und wir lassen uns verführen. Wenn wir dann aber abends zuhause sind, sagen wir uns: Verdammt, jetzt haben wir wieder diese fettigen Fritten gegessen. Wir packen unsere Gemüse-Abokiste aus und machen uns doch ein gesundes Essen.
Wie kommen wir aus diesem Dilemma heraus?
Wichtig ist, zu reflektieren, wie Medien und Medienkonsum funktionieren und wann zu viel auch einfach zu viel ist. Man kann sich nicht acht Stunden am Tag mit Corona-News beschäftigen. Wir können uns auch nicht acht Stunden am Stück den Bauch vollschlagen. Das ist weder gut noch gesund. Wenn man das verstanden hat, kann man sagen: Ok, eine Stunde am Tag schaue ich mir Medien an, denen ich vertraue und dann ist es auch gut. Wir wissen aus der Kognitionsforschung, dass unser Gehirn Abstand und Pausen braucht, um Informationen zu verarbeiten. Von daher macht es Sinn, irgendwann die Apparate abzuschalten.
Der Shutdown hat auch zu geschlossenen Grenzen und Abschottung geführt – was bedeutet das z.B. für Globalisierung und internationale Zusammenarbeit?
Ein Gegentrend zur Globalisierung hat sich auch schon vor Corona abgezeichnet. Steigende Löhne in Asien haben u.a. dazu geführt, dass ein Teil der Produktion wieder zurückverlagert wurde. Was die internationale Kooperation betrifft, erleben wir z.B. jetzt, dass der Datenaustausch extrem nützlich ist. Die Wissenschaft, die schon immer von globaler Vernetzung gelebt hat, erfährt gerade einen Schub. Virologen aus aller Welt tauschen ihr Wissen aus, um gemeinsam einen Impfstoff zu entwickeln – das ist ein großer Fortschritt. So müssen wir auf die künftige Entwicklung schauen. Wir werden langfristig besser kooperieren, aber es kann auch kurzfristig zu Rückschritten kommen. Menschheitsentwicklung ist Stolpern und wir stolpern nach vorne.
Welche Trends sehen Sie für die Zeit nach Corona?
Ich glaube, wir dürfen die alten Trends nicht aus den Augen verlieren – zum Beispiel Nachhaltigkeit. Wir haben ja nicht nur eine Coronakrise, sondern auch eine Klimakrise. Die ist nicht vorbei, nur weil gerade kaum jemand darüber spricht. Unternehmen sollten ihre Anstrengungen und Bemühungen hier nicht herunterfahren. Die nächste Krise wird sonst vielleicht eine Klimakrise sein. Und jedes Unternehmen, das sich nicht heute schon darauf einstellt, wird doppelt und dreifach bestraft. Wenn wir etwas aus Krisen lernen können, dann ist es, Vorsorge zu treffen.
Was können Unternehmen tun, um sich und ihre Mitarbeitenden krisenfest(er) zu machen?
Sie können in ihre Unternehmenskultur investieren. Je mehr Krisen, Unsicherheit und Veränderungen es gibt, umso wichtiger ist der soziale Kitt, der ein Unternehmen zusammenhält. Auch dann, wenn man mal nicht zusammen sein kann wie jetzt gerade. Teams, die vorher nicht funktioniert haben, werden in digitaler Zusammenarbeit erst recht nicht funktionieren. Wenn alle das Gefühl haben, für eine gute Sache unterwegs zu sein, wenn alle in einem Boot sitzen, wenn man sich gegenseitig unterstützt und wenn eine gute Vertrauens- und Respektkultur herrscht – dann ist das die beste Grundlage, eine Krise durchzustehen. Wenn alle gemeinsam erfolgreich sein wollen, dann sind auch alle bereit, Abstriche zu machen, ggf. Kürzungen hinzunehmen und Einschnitte auszuhalten.
Eine gute Unternehmenskultur ist kein Luxus, sondern eine Notwendigkeit. Es sind die People Issues, die dann auch die Business Issues auf Erfolgskurs bringen.
Vielen Dank für das Gespräch!
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