1,75 Meter und 78 Kilogramm – das misst ein durchschnittlicher Crash-Test-Dummy, wenn er in einem Auto gegen die Wand prallt. Die Auswirkungen: Das Fahrzeug wird demoliert, Splitter und Bruchstücke fliegen durch die Luft und Testpuppen werden potenziell verletzt. Aus Erkenntnissen dieser Tests kann die Autoindustrie die Sicherheit erhöhen und die Gefahren für fahrende Personen minimieren. Was wie eine gewöhnliche Zielgruppenanalyse aussieht, birgt ein viel grundlegenderes Problem: Die Gender Data Gap (zu Deutsch: die Geschlechter-Datenlücke).
Das ist die Gender Data Gap
Die durchschnittliche Frau – mit einer Größe von 1,66 Metern und einem Gewicht von etwa 68,7 Kilogramm – entspricht dem Abbild des Crash-Dummys deutlich weniger als die Durchschnittswerte eines Mannes (in Deutschland etwa 1,79 Meter). Das Resultat sind Unfallschäden für weibliche Verkehrsteilnehmende mit wesentlich katastrophaleren Ausmaßen. Im Falle eines Zusammenstoßes sind Sitze und Schutzmaßnahmen wie Airbags und Körpergurte auf mehr Länge und Gewicht ausgelegt. In Zahlen heißt das wiederum: 17 Prozent mehr unfallbedingte tödliche Verletzungen für Frauen auf den vorderen Sitzen.
Das Problem der Gender Data Gap: Sie spiegelt eine Welt wider, in der nicht die Hälfte der Menschheit Frauen wären. Denn die mit Crash-Test-Dummys erhobenen Daten sind keine unbeabsichtigten Daten-Misinterpretationen und vor allem kein Einzelfall. Auch bei Herzinfarkt-Symptomen oder Haushaltsstudien dominiert der männliche Blick, weil die Daten, die wir seit Jahren sammeln und heutzutage immer noch erheben, mehrheitlich Erkenntnisse über Männer sind. In Folge dieser Verzerrung richten sich Behandlungen, Produkte und Empfehlungen fälschlicherweise viel zu häufig nach biologisch männlichen Kriterien – zum realen Nachteil der Frau.
Gender Data Gap als Gesundheitsrisiko
In der medizinischen Forschung wird die Dominanz männlicher Kriterien zu einem realen Gesundheitsrisiko. Werden beispielsweise bei Medikamentenstudien in weiblichen und männlichen Testgruppen Nebenwirkungen festgestellt, hängt der Ausgang der Studie vom Geschlecht der jeweiligen Untersuchungsgruppe ab: Finden sich negative Auswirkungen nur in weiblichen Testgruppen, handelt es sich meist um einen sogenannten falschnegativen Subgruppeneffekt, der im Sinne der Studiendurchführung vernachlässigt wird, da die Teilnehmerinnenanzahl zu gering ist, um die Wirkung zu belegen. Treten die exakt gleichen Symptome jedoch in der männlichen Testgruppe auf, so bedeutet dies oftmals das Ende jener Forschungsstudie.
Dass Frauen überhaupt in klinischen Studien repräsentiert sein müssen, wurde in Deutschland erst 2004 mit dem 12. Änderungsantrag im Arzneimittelgesetz verankert. Somit sind Initiationsinstitutionen verpflichtet „den Nachweis der Unbedenklichkeit oder Wirksamkeit eines Arzneimittels einschließlich einer unterschiedlichen Wirkungsweise bei Frauen und Männern zu erbringen.“
(Quelle: 12. Änderungsantrag des Arzneimittelgesetzes, Seite 2039, Artikel 42, Absatz 2.)
Herzinfarkte werden bei Frauen später erkannt
Das medizinische Feld bietet jedoch noch viel mehr Angriffsfläche. Während zahlenbasiert mehr Männer einen Herzinfarkt erleiden, sterben wiederum mehr Frauen an Gefäß-, Herz- oder Kreislauf-Erkrankungen. Warum werden Symptome nicht frühzeitiger erkannt? Der Fehler liegt zuerst im System, denn bereits in der Forschung zeigt die Gender Data Gap ihre Auswirkungen: 70 Prozent der zugrundeliegenden Tierversuche werden an männlichen Testobjekten durchgeführt. Während weibliche Aspekte in der Erforschung von Arzneimitteln gegen Herz-Kreislauf-Erkrankungen vernachlässigt werden, sollen diese anschließend im Ernstfall auf jede erkrankte Person angewendet werden können. Darüber hinaus besteht ein Unterschied in der Diagnose der Symptomatik bei Frauen: So wird oft zuerst eine harmlosere Ursache vermutet und die Behandlung akuter koronarer Herzerkrankungen erfolgt vergleichsweise verspätet.
Die Liste an männlich geprägten Forschungsergebnissen findet sich auch im Alltag: Haushaltsstudien werden typischerweise an dem Familienoberhaupt ausgerichtet – traditionell nimmt diese Rolle der Mann ein. Studien-Verfälschungen basieren oftmals auf falschen Eingliederungen oder dem Übersehen von alternativen Familienkonzepten, die dem Studiendesign grundsätzlich widersprechen. Frauengeführte Familien finden daher seltener Repräsentation. Folglich können zwar 75 Prozent der wirtschaftlichen Aktivitäten von Männern abgebildet werden, die von Frauen jedoch nur zu 30 Prozent.
Pflege, Medizin, Sicherheit bis hin zu Stadtplanung, Algorithmen und Studien: Der Anwendungsbereich und die Risiken und Auswirkungen der Gender Data Gap sind so universell wie die Datenerhebung.
Wie kann die Gender Data Gap geschlossen werden?
Aus den Datenlücken folgen schwerwiegende soziale Defizite. Die wirtschaftliche, gesellschaftliche oder medizinische Ausrichtung von Wissensaneignung richtet sich streng nach dem Erkenntnisgewinn der zugrundeliegenden Forschungen. Verschwindet ein Teil der Bevölkerung in unsichtbaren Datenmengen, werden Angebote nicht für die Gesamtheit der Zielgruppe ausgerichtet, sondern beflügeln immer nur einen Teil des Ganzen. Die resultierende Wahrnehmung in vielerlei Ausprägung verfehlt damit ihr größtmögliches Potenzial. Wie Melanne Verveer, Executive Director am Georgetown Institut für Frauen, Frieden und Sicherheit an der Georgetown University, es formuliert: „Daten messen nicht nur den Fortschritt, sie inspirieren uns.“ (Quelle: „Closing the Gender Data Gap“)
Was also tun gegen die Gender Data Gap? Eine Lösung liegt dabei im Ursprung. Algorithmen, die durch ein verzerrtes Weltbild generiert wurden und es folglich weiter bedienen, müssen durch jene ersetzt werden, die darauf ausgelegt sind, diese Fehler bewusst zu vermeiden. Wie Caroline Criado-Perez, Journalistin und Feministin, es in ihrem Buch „Unsichtbare Frauen“ zur Schließung der Gender Data Gap benennt: „Wenn wir eine gerechte Zukunft gestalten wollen, müssen wir den fundamentalen Bias, der Frauen als atypisch einstuft, erkennen und entschärfen. Frauen sind kein verwirrender Faktor, der aus Forschungen eliminiert werden muss – fehlerhafte Daten aber schon.“
(Quelle: „We Need To Close The Gender Data Gap By Including Women In Our Algorithms”)
Falsch wäre es aber, in der reinen Analyse von Datenstrukturen und Algorithmen zu verharren. Denn: Daten sind ein Spiegelbild unserer gesellschaftlichen Realitäten und geben damit auch Stereotype, Vorurteile und männliche Geschlechterdominanz wieder. Deshalb müssen verstärkt ungerechte Strukturen hinterfragt und entsprechende Lücken ausgeglichen werden. Angefangen mit dem Bewusstsein über eine größere Beteiligung von Forscherinnen am Forschungsprozess bis hin zu der Erkenntnis einer zukünftigen Notwendigkeit zur Anpassung von Projektkonzeptionen. Gleichstellung bedeutet dabei nicht zwangsläufig Gleichbehandlung: Die Repräsentation von biologischen Unterschieden gehört zum Fortschritt in der Wahrnehmung und ist gerade in der Medizin nötig für die Behandlung von Individuen auf gleicher Augenhöhe. Denn es ist zum Wohle aller, wenn Daten und daraus folgende Entscheidungen die tatsächliche Gesellschaft widerspiegeln, und nicht nur das, was Vorurteile und über Jahrhunderte gewachsene Ungerechtigkeiten als vermeintliche Wirklichkeit inszenieren.
Hier können Sie die “Mind the Gender Data Gap” Analyse von pressrelations fürs prmagazin lesen. >>