Wege aus der Corona-Infodemie: Flatten the Curve!

4 Minuten Lesedauer

In PISA-Studien liegen Finnlands Schulen stets weit vorn, besonders bei der Digitalisierung. Jüngstes Beispiel: Das Thema Fake News ist seit Kurzem fester Bestandteil des Lehrplans. So wird in Mathematik die richtige Interpretation von Zahlen, Daten und Statistiken gelehrt, in Kunst lernen Schüler*innen, manipulierte oder manipulativ eingesetzte Fotos zu erkennen, und in Geschichte wird über Lügen und Scheinfakten aufgeklärt.

Wie wichtig eine solche Bildungsarbeit ist, zeigt jetzt die Corona-Krise. Während die Welt unter der Pandemie leidet, ist das Netz für Verschwörungstheoretiker, Hobby-Experten, Wichtigtuer, Untergangspropheten, professionelle News-Manipulatoren und Populisten zum Corona-Paradies degeneriert.

Überflutung mit Information in Echtzeit

Doch genauso problematisch wie Fake News ist inzwischen auch die Welle von Information in Echtzeit aus allen nur denkbaren Kanälen. Der Segen von Online ist in der Corona-Krise zum Fluch geworden. Denn Niemand kann den riesigen Output und die permanenten Aktualisierungen von Daten, Nachrichten und Kommentaren auf Dauer angemessen verarbeiten. Schon nach wenigen Tagen macht sich daher ein Schwindelgefühl von Info-Übersättigung und Überforderung breit.

Berichterstattung in der Coronakrise
Berichterstattung zur Coronakrise: Untersuchung durchgeführt von pressrelations.

Zudem wirkt die Informationsflut als Brandbeschleuniger für Fake News. Schon zu normalen Zeiten ist es nicht einfach, seriöse von unseriösen Quellen und gute von schlechten Informationen zu trennen. Der aktuelle Tsunami von News, Tweets und Posts zu Corona macht das schlicht unmöglich.

Zusätzlich erschwert wird das Einordnen und Bewerten der Informationen, weil über Corona und seine Folgen zu wenig gesichertes Wissen existiert, die Daten über dessen Verbreitung strukturell unzulänglich sind und täglich neues Wissen die Informationsgrundlagen laufend transformiert.

Erkenntnislage ändert sich über Nacht

Selbst seriöse Institutionen wie das Robert-Koch-Institut und hochkompetente Experten wie der inzwischen berühmte Charité-Virologe Christian Drosten mussten Daten und Empfehlungen des Vortags schon korrigieren, weil sich die Erkenntnislage über Nacht verändert hatte.

Informationen und Prognosen zur Pandemie und ihre Auswirkungen auf die Gesundheitssysteme, die Wirtschaft und die Gesellschaft als Ganzes zerfließen daher im Dauerlauf der Echtzeit-Berichterstattung zu einem Mahlstrom aus gesichertem Expertenwissen, qualifizierter Einordnung, politischen Haltungen, persönlichen Meinungen, Mutmaßungen und eben Fake News.

Die aktuelle Pandemie ist zwar außergewöhnlich, doch nicht die erste in der Geschichte. Wirklich neu ist vielmehr, dass wir mit Hilfe der Digitalisierung nun die erste Infodemie der Menschheit erleben.

Wie also bleiben wir gut informiert und verhindern gleichzeitig, unter der News-Übersättigung zu kollabieren, uns mit Fake News anzustecken und Andere durch Teilen und Weiterleiten von Halb- und Fake-Wissen zu infizieren?

1. Bewusste Selektion

Das finnische Schulsystem unterscheidet Fake News nach Desinformation, Fehlinformation, sowie Klatsch und Tratsch.

Desinformation

Die Desinformation ist die klassische Art der Fake News – absichtsvolle Falschinformation durch manipulative Fotos und Daten, suggestive Sprache, einseitige Darstellung. Ein kurzer und prägnanter Leitfaden, um Lügenpresse leicht zu entlarven, findet sich z.B. auf der unabhängigen Journalismus-Plattform Krautreporter.de.

Fehlinformation

Als Fehlinformation gelten alle gut gemeinten, aber nicht gut gemachten Informationen. Unbelegte Behauptungen, ungenaue oder widersprüchliche Aussagen, fehlerhafte Dateninterpretation und Spekulation. Sie finden sich vor allem in sozialen Netzwerken, auf journalistisch nachlässig betriebenen Websites oder bei Experten mit zweifelhafter fachlicher Reputation.

Klatsch und Tratsch

Zu Klatsch und Tratsch zählt alles, was Privatpersonen austauschen, besonders über soziale Medien. Zu Infodemie-Zeiten kann es besser sein, Posts von Privatpersonen als Unterhaltung, aber nicht als Information zu betrachten. Selbst wenn sich viel Mühe gemacht wurde – bei komplexen Themen sind Einzelpersonen den Fachexperten mit teils jahrzehntelanger Erfahrung sowie Fachinstituten und großen Medien mit hunderten oder sogar tausenden Mitarbeitern strukturell unterlegen. Vorsicht ist insbesondere bei zu positiven oder zu schwarzmalenden Kommentaren angebracht.

#Stayathome gegen Infodemie

Bewusste Selektion macht aber nicht nur in Hinblick auf die Prüfung von Fake News Sinn. Ähnlich wie eine Pandemie ungeeignet ist, jetzt alternative oder ungeprüfte Heilmethoden auszuprobieren, ist die Infodemie-Phase nicht die Zeit, neue und bisher unbekannte News-Quellen zu erschließen. #Stayathome bedeutet auf die Infodemie gewendet, dass Sie besser bei den Medien bleiben, die sich für Sie über Jahre bewährt haben und denen Sie begründet vertrauen.

Im Zweifel sind das noch immer die etablierten Qualitätsmedien, die mit großen Redaktionen, gut ausgebildeten Journalisten, umfangreicher Recherche, intensivem Fakten-Check und direktem Zugang zu Spitzenpolitikern und Top-Experten für eine hohe Nachrichtenqualität sorgen können.

2. Radikale Reduktion

Filtern und systematisch reduzieren

Aktuell bestehen ca. 65% des gesamten Nachrichtenoutputs der News-Portale aus Corona-News (Quelle: eigene Datenerhebung in deutschen Topmedien). Selbst auf nur einem großen News-Portal wie Spiegel Online alle Corona-Informationen zu verarbeiten, hält Sie daher den ganzen Tag beschäftigt.

Surfen Sie also lieber nicht wie üblich im Nachrichtenstrom. Filtern und reduzieren Sie systematisch auf jene Artikel, die Sie am meisten interessieren und persönlich betreffen. Um keinen Tunnelblick zu bekommen, vergleichen Sie diese Informationen mit denen zum selben Thema bei wenigen weiteren Top-Nachrichtenseiten.

Social Media nach Maß

Fragen Sie sich zunächst selbst, ob die zahlreichen Tweets, Posts und Messages Ihrer Peer zu Corona Ihnen eher gut taten oder nicht. Ist Letzteres der Fall, dann teilen Sie nicht jede für Sie neue Information oder jeden für Sie spannenden Gedanken zur Pandemie. Reduzieren Sie Ihre Kontakte in den sozialen Netzen auf das Notwendigste.

Infokriege vermeiden

Fangen Sie vor allem keine Info-Kriege auf Twitter, Facebook oder Ihrer Whatsapp-Gruppe an. Das passiert längst zig millionenfach und trägt massiv zur Ausbreitung der Infodemie bei. Bleiben Sie auch den Infokriegen Anderer fern. Diskutieren und erörtern Sie die Lage mit Ihren Freunden, Kollegen oder Bekannten am besten persönlich. Und das bedeutet aktuell – am besten telefonisch oder per Video-Chat.

„Flatten the Curve“ kann daher genauso als Motto zur Eindämmung der Infodemie dienen, um unsere Gesellschaft vor Fake News und uns selbst vor dem „Information Overkill“ zu schützen. Durch eine noch bewusstere und genauere Selektion der Medienbeiträge und Medienquellen als bisher schon und eine radikale Reduktion von Klicks, Posts, Likes, Tweets, Retweets und Shares.

Seien Sie der Erste und schreiben Sie einen Kommentar

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert