Eine mehr als dubiose Nachrichtenquelle? Eine Reportage, die es mit der Faktenlage nicht so genau nimmt? Ein YouTube-Video mit haarscharf an den Tatsachen vorbei komponierter Bild- und Tonspur? Von “Fake News” zu sprechen, liegt hier nahe. Auch dank Donald Trump hat sich die Bezeichnung global durchgesetzt, ironischerweise auf allen Seiten der Nachrichtenlage. Dabei ist der Begriff der Desinformation viel präziser – die grassierende Corona-Infodemie zeigt, warum.
Irren ist menschlich, täuschen aber ist infam. Anders ausgedrückt: ganz genau an dieser Stelle verläuft die feine Linie zwischen dem, was in der Linguistik mit misinformation (irrtumsbasierte Fehlinformation) und disinformation (Desinformation mit Täuschungsabsicht und/oder politischer Agenda) umschrieben wird. Der Begriff der Fake News verwischt diese Linie, da er als Synonym für beide Kategorien gebraucht wird. Wer ihn nutzt, macht nicht deutlich, ob es sich in den jeweiligen Fällen um Fehleinschätzungen handelt oder um Unwahrheiten. Darüber hinaus dient Fake News so manchen als Kampfbegriff, um kritische Medienberichterstattung pauschal als falsch zu disqualifizieren. Angesichts der sich parallel zu Corona im Netz viral verbreitenden Falschmeldungen, Halbwahrheiten und Verschwörungsmythen, tut eine Differenzierung mehr denn je not.
Tendenz zur Verschwörungsgläubigkeit
In einer aktuellen Umfrage der Uni Wien wurde von ganzen 39 Prozent der 1.502 Befragten der Satz “Bill Gates will die Menschheit zwangsimpfen, um damit viel Geld zu machen” nicht als falsch identifiziert. 41 Prozent konnten das Statement “Das Virus ist eine Biowaffe” nicht als Falschinformation einordnen. Diese Bereitschaft, an Verschwörungen zu glauben, zeigt sich auch bereits in zwei Studien aus dem April. In einer Analyse von 120.000 Facebook-Posts durch die Uni Münster – darunter 15.000 von sogenannten alternativen Medien – stießen die Forschenden selten auf Fehlinformationen, umso öfter identifizierten sie Beiträge, die der Fabel von Corona als großer Verschwörung bzw. Schwindel Auftrieb gaben. Die Uni Oxford wiederum kooperierte mit dem International Fact Checking Network (IFCN): 59 Prozent von 225 vom IFCN als falsch nachgewiesene Beiträge basierten auf stellenweise wahrheitsgemäßen Fakten, die falsch wiedergegeben oder bis zur Unkenntlichkeit aus dem Kontext gerissen wurden. Im Social Web generierte diese perfide Art der Desinformation im Stil “alternativer Fakten” besonders viele Klicks.
Propaganda von unten
Fünf Gläser Wasser, ein Schnaps, oder eine Flasche Desinfektionsmittel, um den Coronavirus aus dem Körper zu spülen? Solche vermeintlichen Tipps sind zwar gefährlich, aber im Fakten-Check relativ einfach zu widerlegen. Anders sieht es aus, wenn Menschen überzeugt davon sind, dass 5G-Masten Corona verbreiten und Big Pharma, Bill Gates, Angela Merkel und die WHO unter einer Decke stecken und absolute Macht per Zwangsimpfung suchen. Die Erzählungen von Geheimbündnissen und großen Verschwörungen bewegen sich nicht mehr im Bereich des Irrtums, sondern im Feld der mehr oder weniger sorgfältig konstruierten Halbwahrheiten und Manipulation: auf Seite der Rezipierenden schlägt der Glaube Fakten. In dieser Welt wird dann ein Aufklärungsvideo des Gesundheitsministeriums als weitere ‘Lüge der Eliten’ verspottet. Peter Pomerantsev, britischer Journalist mit dem Spezialgebiet Desinformation, bezeichnet dieses Phänomen als “Propaganda von unten”. Wer Zwietracht säen will, braucht keine generalstabsmäßig geführten Kampagnen mehr, dank des Schneeballeffekts in sozialen Netzwerken, wo Meinung zudem bereits als Wissen gilt.
Die Spitze des Eisbergs
Dabei können Plattformen wie YouTube, Twitter, Facebook und Instagram Desinformation als solche kennzeichnen und propagandistische Accounts sperren, wenn dort Lügen verbreitet und zu Gewalt aufgerufen wird. Zu stärkerer Kontrolle und effektiveren Prüfmechanismen haben sich mehrere große Unternehmen 2018 in einem Verhaltenskodex sogar selbst verpflichtet – allerdings ohne sichtbare Konsequenzen. Anders als die EU-Kommission in ihrem Appell letzte Woche setzen deshalb Journalistinnen und Journalisten nicht mehr auf Ermahnungen und Einsicht, sondern auf Strafen. Ein weiterer wichtiger “Superspreader” dubioser Nachrichten sind neue Anwendungen wie TikTok und geschlossene – und daher nicht zu beobachtende – Netzwerke wie WhatsApp oder Telegram. Nachdem WhatsApp die Weiterleitungsfunktion dieses Frühjahr stark eingeschränkt hat, um zu verhindern, dass sich Falschmeldungen und Gerüchte zu Corona in riesigen Gruppen weiter wie ein Lauffeuer verbreiten, ist Telegram zum Sammelbecken der Frustrierten geworden.
Stichwort ‘Awareness’
Wichtig ist in diesem Zusammenhang die Frage, ob Nutzende ein Problembewusstsein für Inhalte im Social Web oder in geschlossenen Netzwerken haben. Das Meinungsforschungsunternehmen Civey hat dazu im Auftrag von pressrelations 2.500 Personen befragt. Nur 4,5 Prozent der Befragten haben demnach schon einmal zurückgemeldet bekommen, dass sie Falsch- oder Desinformation verbreitet haben, weitere 1,5 Prozent waren unentschieden. Kann daraus abgeleitet werden, dass 94 Prozent noch nie Falschmeldungen oder Verschwörungsmythen gepostet oder weitergeleitet haben? Oder dass sie entsprechende Hinweise ignoriert bzw. überhaupt nicht wahrgenommen haben? Die gute Nachricht: Zumindest 6 Prozent der Befragten sind sich der Problematik bewusst.
Global viral
Viele der konspirativen Erzählungen zu Corona sind nicht lokal geprägt, sondern von globaler Viralität: das zeigt auch eine Analyse relevanter Keywords und Hashtags im SearchPool von pressrelations. Seit März steigt auch im deutschen Social Web die Zahl der entsprechenden Hashtags stark an. Beispiele für diese großen Trends sind #QAnon, #billgates, #deepstate oder #bigpharma. Die dahinter liegende Erzählung hat inzwischen vor allem durch YouTube und Prominente, wie Xavier Naidoo oder Attila Hildmann, ein größeres Publikum erreicht. Noch einmal kurz zusammengefasst: Bill Gates hat die Weltherrschaft und den Bevölkerungsaustausch von langer Hand geplant. Dank Corona, der WHO und diverser Regierungen kann er zu diesem Zweck nun endlich Menschen zwangsimpfen und durch Chips überwachen. So weit, so absurd. Aber es wird noch absurder: Donald Trump nutzt das durch Corona ausgelöste Chaos, um einen internationalen Menschenhändlerring aus Politik und Prominenz zu zerschlagen und tausende Kinder zu befreien. Je nach Erzählung wurden die Kinder versklavt oder ihnen wurde Blut abgezapft – aus dem dann ein Elixier der Jugend hergestellt wird.
“Fake News” als Kampfbegriff
In der Zeit der Ausgangsbeschränkungen gewinnt der Hashtag #fakenews deutlich an Popularität: der pressrelations SearchPool zeigt zwei deutliche Peaks in den Kalenderwochen 12 und 16. Viele der Beiträge in KW 12 sind Retweets eines Postings der AfD-Politikerin Beatrix von Storch. Sie riet der Bundesregierung, den “Kampfbegriff der Fake News” doch mal auf die eigene Pressearbeit anzuwenden. Von Storch bezog sich damit auf die nach langem Hin und Her schließlich doch bundesweit beschlossenen Ausgangsbeschränkungen.
Viele Klicks und Postings generiert auch ein Video des inzwischen vom Verfassungsschutz beobachteten rechtsextremen Compact-Magazins auf YouTube: “So knüppelt die Hygiene-Diktatur, Gates und Corona” (138.034 Aufrufe, Stand am 21.04.2020). Auch die Förderung von journalistischen Projekten durch die Bill & Melissa Gates Foundation stößt auf Misstrauen und löst wilde Spekulationen aus. Zielscheibe der Wut sind einzelne Corona-Recherchen von SPIEGEL Online – die als Zusatz allerdings schon immer eine transparente Erklärung zur Förderung durch die Stiftung haben. Das Verschwörungskarussell dreht sich aber noch weiter: andere User stützen sich auf SPIEGEL Online, um dem Recherchenetzwerk correctiv eine “unlautere” Förderung durch die George Soros Foundation “nachzuweisen”. Von den antisemitischen Konnotationen und dem altbekannten Soros-Bashing einmal abgesehen, gelingt den Usern auch hier keine große Enthüllung. Der entsprechende Artikel ist nämlich bereits von 2017.
Corona hat die Reichweiten der Onlineseiten von TV-Sendern und Zeitungen zumindest kurzfristig explodieren lassen. Dies schien ein gestiegenes Vertrauen in den Journalismus und offizielle Quellen in unsicheren Zeiten zu suggerieren. Doch die Zahlen sind trügerisch: Desinformation ist Trumpf, wenn sie viele Klicks für soziale Netzwerke generiert. Facebook weiß offenbar schon seit Jahren, dass ihre Newsfeed-Algorithmen wie ein Spaltpilz wirken und Menschen zu extremen Ansichten pushen. Ob die jüngsten, durch Donald Trump ausgelösten Diskussionen um die Verantwortlichkeit von Twitter und Facebook Früchte tragen werden, ist eine der entscheiden Fragen im Jahr von Corona, US-Wahlen und des weltweiten Aufstehens gegen Rassismus. Die Beratungsfirma Kekst CNC fand in einer Studie im April mit jeweils tausend Befragten in den USA, Deutschland, Großbritannien und Schweden heraus, dass das allgemeine Vertrauen in die Medien in allen untersuchten Ländern tatsächlich gesunken war. Angesichts der brodelnden Social-Media-Gerüchteküche ist dies keine gute Nachricht.