Im digitalen Handeln ist China dem Westen weit voraus. Die rasante Entwicklung der digitalen Realität im asiatischen Raum lässt in den westlichen Ländern derzeit viele Fragen offen. Im Interview erklärt Björn Ognibeni, Unternehmensberater im Bereich digitale Transformation und Mitbegründer von ChinaBriefs.io, weshalb es wichtig ist, den Blick zukünftig nach “Digital China” zu richten.
pressrelations: Warum sollten sich westliche Unternehmen mit „Digital China“ auseinandersetzen?
Björn Ognibeni: “Bisher hat sich der Westen immer an den USA orientiert, doch seit einiger Zeit erreicht uns von dort kaum noch wirklich Spannendes. Neuheiten finden sich nun oft in Asien und dort sehr stark in China, wo viel mehr Dynamik und Innovationsgeist herrschen als hier bei uns.”
Was sind derzeit interessante digitale Trends und Innovationen in Asien?
Björn Ognibeni: “In China ist es üblich, mit dem Handy zu bezahlen, sogar in ländlichen Regionen. Bargeld oder Kreditkarten werden kaum noch verwendet. Auch bezüglich Covid-19 lassen sich hier einige Trends beobachten, beispielsweise nutzen Krankenhäuser Robotertechnik, um Patienten effizienter versorgen zu können. Im Logistikbereich erfolgt auf dem Land schon jetzt die Zulieferung mittels Drohnen, und auch im E-Commerce gibt es zahlreiche spannende Innovationen. Im Grunde finden wir in Asien dieselben Ideen wie hier auch, doch dort werden sie bereits konkret angewendet. Was für uns futuristisch klingt, ist in “Digital China” oft schon gelebte Realität.”
In welchen Bereichen nutzt China denn bereits heute Technik intensiver als wir im Westen?
Björn Ognibeni: “Der weltgrößte Versicherer Ping An nutzt zum Beispiel AI-Systeme, um im Rahmen seiner Kfz-Versicherung Schäden innerhalb von Minuten zu regulieren und wickelt so bereits die große Mehrheit der Schadensfälle ab. Elektrische Scooter sind in großen Städten wie Shanghai und Peking seit zehn Jahren auf den Straßen vertreten, und auch die Ladeinfrastruktur für Elektroautos ist dort bemerkenswert. Ladestationen lassen sich per Handy reservieren, damit sie auch wirklich frei sind, wenn man dort ankommt. Züge sind mit 350 Stundenkilometern unterwegs und fahren bis zu drei Mal schneller als Züge bei uns im Westen. Ein weiteres Beispiel: In Shenzhen und Peking ist 5G schon weitgehend fertig ausgebaut, und andere Städte werden bald folgen. Was bei uns viel Zeit benötigt, wird von den Chinesen unglaublich schnell umgesetzt.”
Was sind Ihrer Meinung nach die Gründe für das hohe Innovationsgeschehen in China?
Björn Ognibeni: “Einen wichtigen Faktor bildet natürlich das autoritäre politische System, das in China vieles schneller möglich macht, als in Demokratien. Das hat natürlich nicht nur Vorteile und sorgt dafür, dass eben nicht die Meinungen aller Beteiligten angemessen berücksichtigt werden. Deshalb dauert hier die Bau einer Bahnstrecke Jahre, während in China so etwas einfach umgesetzt wird. Für Unternehmen ist aber ein anderer Faktor viel wichtiger als die Politik: die Offenheit der Chinesen gegenüber neuen Ideen und Konzepten. Wo wir uns eher schwertun, uns für Innovationen zu begeistern, sind chinesische Konsumenten jederzeit bereit, neue Dinge auszuprobieren. Asiatische Firmen planen außerdem langfristiger (Alibaba z.B. für 103 Jahre) und entscheiden gleichzeitig extrem schnell. Wir planen oft für Quartale und brauchen dann Jahre für einzelne Entscheidungen.”
Welche Rolle spielt “Digital China” bei der Etablierung globaler futuristischer Trends?
Björn Ognibeni: “Die USA haben Trends und Innovationen während der letzten Jahrzehnte vorangetrieben und in diesem Prozess Regeln etablieren können. China versucht das jetzt auch, beispielsweise durch den schnelleren Ausbau von AI-Technologien. Die chinesische Gesellschaft vertritt ganz andere Werte als wir, die sich dann auch in deren Algorithmen wiederfinden: Während z.B. Gesichtserkennung dort selbstverständlich ist, denken wir noch darüber nach, wie wir so eine Technologie nutzen wollen – was in Anbetracht der langfristigen Folgen einer solchen Technologie auch durchaus sinnvoll ist. Im Westen hält sich die hartnäckige Vorstellung, dass China noch immer Innovationen vor allem kopiert, was aber nicht mehr so sehr der Fall ist, wie noch vor ein paar Jahren. Das zeigt eben das Beispiel Mobilfunk. Das 2G-Netz in China kam vor 20 Jahren noch von Siemens und die Chinesen haben damals sicher viel von uns gelernt. Heute jedoch können wir unser 5G-Netz kaum noch ohne chinesisches Know-how aufbauen. Dabei wird der Austausch von Wissen nicht zuletzt auch von Sprachbarrieren behindert. Wir publizieren unser Wissen auf Englisch, was jeder chinesische Experte lesen kann. Gleichzeitig können unsere Experten dies mit chinesischen Publikationen meistens vermutlich nicht.”
Von welchen prägnanten chinesischen Innovationen ist der Westen noch weit entfernt? Was unterscheidet die chinesische Zukunfts-Mentalität von der westlichen?
Björn Ognibeni: “Es gibt durchaus Themen, wo Bedenken bezüglich Privatsphäre und Datenschutz absolut berechtigt sind. Das Beispiel Gesichtserkennung hatten wir oben ja schon erwähnt. Doch gleichzeitig gibt es viele andere Bereiche, wo diese Bedenken unnötig sind und wir trotzdem nicht die Potenziale von Big Data und AI nutzen – z.B. für Effizienzsteigerung in Unternehmen, bei der Produktion o.ä.. Wie groß unser Rückstand bei der Digitalisierung wirklich ist, hat uns nicht zuletzt die aktuelle Pandemie gezeigt: von Fernunterricht in Schulen bis zu digitalen Rezepten für Medikamente gibt es in China viele Dinge, die wir hier auch schnell einführen könnten. Nicht zuletzt auch unter dem Druck einer solchen Krise. Doch statt nach Lösungen für Probleme zu suchen, beschäftigen wir uns immer noch zu oft mit der Frage, was alles nicht geht.”
Was können wir von China und vielleicht Ost-Asien insgesamt im Umgang mit Corona lernen — und was nicht?
Björn Ognibeni: “Zunächst einmal müssen wir realisieren, wo wir genau stehen. Wir vergleichen uns immer nur mit anderen westlichen Ländern und das gibt uns das Gefühl, besser dazustehen, als es wirklich der Fall ist. Wir übersehen dabei, dass man in Asien das Problem der Pandemie sehr viel schneller und nachhaltiger in den Griff bekommen hat, als wir, die jetzt in einer zweiten Welle stecken. Dabei kann man natürlich immer darüber streiten, wie sehr man den Zahlen vor allem aus China wirklich trauen kann. Deshalb vielleicht mal eine nicht medizinische Zahl, die recht zuverlässig ist: Alibaba hat beim Singles Day dieses Jahr über 25 Prozent mehr Umsatz gemacht, als im Vorjahr. Offensichtlich macht sich der chinesische Konsument weniger Sorgen, als viele bei uns. Die Wirtschaft hat sich recht schnell vom Schock im Frühjahr erholt und in vielen Ländern Asiens ist das Leben inzwischen wieder mehr oder weniger zur Normalität zurückgekehrt. Das lag in China sicherlich an dem sehr rigorosen Vorgehen im Frühjahr, aber heute ist so etwas eben nicht mehr nötig. In Ländern wie Japan oder Südkorea waren so massive Grundrechtseinschränkungen wie bei uns nie Thema. Es würde jetzt sicherlich zu weit führen im Detail zu besprechen, warum das genau so war.”
Was wünschen Sie sich langfristig für die Entwicklung der westlichen Tech-Welt? Inwiefern kann China als Vorbild dienen?
Björn Ognibeni: “Beim Thema Innovation ist es ganz ähnlich wie bei der Pandemiebekämpfung. Wir müssen überhaupt erstmal erkennen, dass wir ein Problem haben. Wir wissen in vielen Bereichen gar nicht, wie weit wir zurückliegen. Der erste Schritt wäre, dies zu realisieren. Das bedeutet aber natürlich nicht, dass wir alles von dort kritiklos übernehmen sollten. Auf gar keinen Fall. Unser Ziel sollte es stattdessen sein, die Entwicklungen dort zu verstehen, um auf der Basis dann zu überlegen, wie man sich dazu verhält. Wo es Trends gibt, die wir für falsch halten, können wir uns dann immer noch bewusst dagegen entscheiden. Im Grunde sollten wir von den Chinesen vor allem eines lernen: die Bereitschaft, unvoreingenommen lernen zu wollen!”
Vielen Dank für das Gespräch!