Mit klaren Konzepten zu mehr Digitalität
Die Coronakrise hat neben vielen Berufstätigen auch die Schülerinnen und Schüler ins Homeoffice verfrachtet. Viele Eltern übernehmen nun die Funktion einer Lehrkraft, was nicht nur die Kinder überfordert, sondern langfristig für die ganze Familie eine enorme Belastung darstellt. Auf akute Lösungsansätze zur Gestaltung des digitalen Heimunterreichts müssen nun langfristige Konzepte folgen, um das Projekt Digitalisierung auch nach der Pandemie in Angriff nehmen zu können. Doch zurzeit verläuft der digitale Unterricht in eher unregelmäßigen Bahnen, denn nicht alle Kinder und Jugendliche verfügen über einen Zugang zu digitalen Endgeräten. Nur eine von vielen Hürden, die es auf dem Weg zu bundesweitem E-Learning zu überwinden gilt.
Die Krise verstärkt digitale Ungleichheit
Bereits bekannte Defizite werden in der Krise zum Problem: Viele deutsche Schülerinnen und Schüler haben keinen Zugang zu digitalen Endgeräten und sind somit für die Lehrkräfte zu Hause nicht erreichbar. Zu diesem Ergebnis ist das Institut für Bildungsmanagement und Bildungsökonomie der Pädagogischen Hochschule Zug in der Schweiz gekommen. In der Auswertung des „Schul-Barometers“ wird deutlich, dass nur rund die Hälfte des befragten Lehrpersonals alle ihre Schützlinge digital unterrichten können. 66 Prozent kommunizieren vor allem über E-Mail, gefolgt von Handys und Online-Plattformen, die annähernd gleich oft benutzt werden.
Im Vergleich zu Österreich und der Schweiz ist die technische Ausstattung in Deutschland am schlechtesten. Über die Hälfte der Befragten „glauben nicht, dass die technischen Kapazitäten an der Schule für webbasierte Lehr- und Lernformate ausreicht“. Nur ein Viertel meint, dass „die Voraussetzungen erfüllt sind“. In Österreich und der Schweiz ist die Zahl doppelt so hoch, doch in Deutschland hat über die Hälfte der befragten Lehrkräfte nicht einmal eine Stunde digitale Präsenzzeit pro Woche gehabt.
Die aktuellen Schwierigkeiten zeigen, dass Homeschooling längst nicht für alle Schülerinnen und Schüler gleichermaßen erfolgreich umzusetzen ist. Somit besteht die Gefahr, dass viele Kinder, mitunter auch solche mit vormals guten Noten, aufgrund von digitalen Defiziten auf der Strecke bleiben. Es entstehen Bildungslücken, die zukünftig nicht mehr auszugleichen sein werden. Um dem entgegenzuwirken, hat der Bund im April zusätzlich zum „DigitalPakt Schule“ ein Sofortprogramm mit über 550 Millionen Euro beschlossen. Doch auch diese Mittel werden wohl nicht ausreichen, um für alle Kinder dieselben Voraussetzungen zu schaffen.
Problem: Transparenz und Datenschutz
Verena Pausder ist Gründerin des Vereins „Digitale Bildung für alle“ und Expertin in diesem Bereich. In der Talkshow “Hart aber fair” kritisierte sie die Politik unter anderem dafür, dass Schulen keine Listen mit digitalen, datenschutzkonformen und kostenfreien Programmen bekommen haben, die sie im Unterricht einsetzen könnten. Über den desolaten Zustand vieler Schulen in Sachen Digitalisierung ist sich die Politik einig, doch noch mangelt es an handfesten datenschutzrechtlichen Konzepten zur sicheren Umsetzung der digitalen Lehre. Vor allem der Einfluss von Software amerikanischer Tech-Giganten auf das deutsche Schulsystem wird momentan stark diskutiert, da hier nicht festgestellt werden kann, zu welchen Zwecken deutsche Schülerdaten von diesen Unternehmen verwendet werden. Bisher wurden hauptsächlich Lernangebote mittelständischer Unternehmen genutzt, doch mit der Coronakrise und vergünstigten Angeboten multinationaler Akteure steigen viele Schulen auf globale Plattformen um, deren Praktiken sich der Kontrolle des Bundes entziehen.
Auf der Plattform Homeschooling in Zeiten von Corona stellt der Verein von Verena Pausder eine Sammlung datenschutzkonformer E-Learning-Angebote zu Verfügung. Das sind Programme, Apps, Tools und Tipps, die Eltern, Lehrerkräfte oder Pädagogen für ihren Unterricht nutzen können, unter anderem Pinnwände, virtuelle Klassenzimmer, Digitalwerkstätten, Schulmessenger sowie Portale mit Übungen, Tests und Unterrichtsmaterialien. Verena Pausder ist überzeugt: „Es mangelt nicht am Angebot, es mangelt an der Transparenz, was man einsetzen darf, und an der Kompetenz oder der Ausbildung der Lehrer: vor allen Dingen, wie ich es einsetze“.
Technik allein ist nicht genug
Der „DigitalPakt Schule“, der Anfang Mai 2019 unterschrieben wurde, stellt insgesamt 5,5 Milliarden Euro zur Verfügung, um Schulen bis 2024 zu digitalisieren. Experten sind besorgt, dass die Mittel nicht für einen langfristigen Wandel oder eine Umstrukturierung im Zeichen der Digitalisierung genutzt werden, sondern lediglich bereits bestehende Entwicklungen unterstützen sollen. Es reicht jedoch nicht aus, bundesweit Laptops und stabile Internetverbindungen zu beschaffen: Man benötigt komplett neue Ansätze, um vor allem die Digitalkompetenz von Lehrern und Schülern nachhaltig zu fördern. Eine gute technische Ausstattung besitzt keinen Wert ohne das Wissen, wie sie zu nutzen ist.
Tatsächlich verfügen viele Schulen bereits über eine große Bandbreite technischer Geräte, doch nicht selten ist die Medienkompetenz bei Schülerinnen, Schülern und Lehrkräften nur mäßig ausgebildet, und das Management der digitalen Lehre oft fehlerhaft. Auch Verena Pausder kritisiert nicht das Angebot, sondern die mangelhaften Nutzungskompetenzen: Kinder seien nur mediale Konsumenten, denen eine verantwortungsvolle Auseinandersetzung mit digitalen Plattformen nicht beigebracht wurde. Es ist die Aufgabe der Politik, Lehrkräften das nötige Wissen in Fortbildungen zu vermitteln und das Aneignen von Medienkompetenzen zu einem festen Bestandteil des Lehrplans zu machen.
Doch nicht nur das Lehrpersonal sei verantwortlich für die digitale Aufklärung: Auch Eltern sollten stärker in diesen Prozess einbezogen werden. Von der Bereitschaft, digitale Projekte flächendeckend umzusetzen, hängt ab, ob Digitalität in allen Bereichen zum Standard wird.
Orientierung am Best Practice
Viele Länder, beispielsweise Dänemark, gehen in Sachen Digitalisierung bereits mit gutem Beispiel voran. Und in Deutschland gibt es ebenfalls Schulen, die sich bereits in diese Richtung entwickeln. Die Freiherr-vom-Stein-Schule in Neumünster hat z.B. ein integrales Medienkonzept entwickelt, das einen Kulturwandel des Unterrichts ermöglichen soll. Die Nutzung von Tablets und Smartphones in der Schule ist ausdrücklich erlaubt, und wer digitale Endgeräte nicht besitzt, kann diese ausleihen. Digitale Lernproben und Heftführung sowie Portfolios gehören zum Alltag. In Projektarbeiten können zudem Videoclips, Podcasts, Tutorials oder Multimediapräsentationen erstellt und präsentiert werden. Auch die Realschule am Europakanal in Bayern ist in Sachen Digitalisierung im Vergleich zu anderen Schulen fortgeschritten – hier wird vor allem der kritische Umgang mit digitalen Medien gelehrt.
Diese Beispiele zeigen, dass es bereits bewährte Ansätze gibt, die gut umgesetzt werden. Jetzt ist es an der Zeit, von diesen Beispielen zu lernen und die etablierten Konzepte auf andere Schulen zu übertragen. Falls das Projekt Digitalisierung nicht am Föderalismus scheitert, sondern bundesweit auf Unterstützung trifft, wird dies hoffentlich flächendeckende Lösungen hervorbringen.
Anstoß für eine neue Lernkultur
Die Pandemie macht deutlich, dass unser Schulsystem nicht krisensicher ist: Unklarheiten, komplizierte Kommunikationswege, unregelmäßige Rücksprachen und fehlehrhaftes Management sorgen bei allen Beteiligten für Frustration und Verwirrung. Schülerinnen und Schüler fühlen sich schlecht informiert, und Lehrkräfte werden mit der Kompensation der Ausfälle allein gelassen. Es braucht nicht nur eine bessere Infrastruktur, sondern auch neue digitale Lernkonzepte, welche die Lernkultur nachhaltig verändern. Aufgrund der aktuellen Lage war es bisher nicht möglich, solche gut durchdachten Konzepte zu entwerfen, doch das wird sich auf Dauer ändern müssen.
Anfang Juni veranstaltet der Verein „Digitale Bildung für alle“ den bundesweiten Hackathon #wirfürschule, um „eine neue Lernkultur an Schulen zu etablieren“ und „Kinder auf die Welt von morgen vorzubereiten“. Dabei sollen Schulleitungen, Lehrkräfte, SchülerInnen und Eltern sowie Expertinnen und Experten aus Design und Programmierung mit einbezogen werden, um gemeinsam nach Lösungen zu suchen.
Damit aus „Digital-Consumers“ richtige „Digital-Natives“ werden, die über Zukunftskompetenzen verfügen, müssen neue Ansätze diskutiert werden: Fortbildungs- und Beratungsangebote, neue Stellen für Administration und Support und vor allem Datenschutzregelungen und gute Organisationsstrukturen. Nur so wird sich der „DigitalPakt Schule“ bis 2024 realisieren lassen.